Reden der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die 1942/1943 aus Darmstadt deportierten Juden, Roma und Sinti

Stadtrat Michael Kolmer

Meine Damen und Herren, sehr geehrte Anwesende,

fast auf den Tag genau heute vor 80 Jahren, am 27. September 1942, sind vor aller Augen, nicht etwa heimlich oder getarnt – nein, für alle gut erkennbar – mehr als 1.000 Menschen mit jüdischem Glauben oder jüdischen Wurzeln gezwungen worden, ihre Heimat zu verlassen. Ziel des Zuges, der hier vom Darmstädter Güterbahnhof abging, war das Konzentrationslager Theresienstadt.

Dieses Lager wurde in der NS-Propaganda als „Altersghetto“ verbrämt und 1943 als vermeintliches „Vorzeigelager“ insbesondere für dänische Juden für verharmlosende Filmaufnahmen missbraucht und internationalen Beobachtern vorgeführt. 

Das jedoch war nicht die Wahrheit. Es war eine handfeste Lüge. Auch nach Theresienstadt sind die Menschen damals gebracht worden, um durch Aushungerung, Krankheiten, Grausamkeiten und schlichten, einfachen, brutalen Mord umgebracht zu werden. 

Theresienstadt war ein besonders perfider Teil der Menschenvernichtungsmaschinerie, die die Nazis damals errichtet hatten. Über dem Eingang stand zynisch – wie in anderen KZs von Dachau bis Auschwitz – geschrieben: „Arbeit macht frei“. Aber an Freiheit war nicht gedacht, nur an den Tod. Theresienstadt war gleichzeitig Gestapo-Gefängnis, Transitlager in die großen Vernichtungslager im Osten und Propagandaeinrichtung.

Von den mehr als 140.000 dort inhaftierten Menschen starben mindestens 33.700, also fast jeder vierte im Lager selbst. 

Die meisten aber, mehr als 88.000 Menschen, also mehr als jede und jeder Zweite, wurden nach Auschwitz, Treblinka, Majdanek oder Sobibor deportiert. Nur 16.832 konnten schließlich am 9. Mai 1945 befreit werden.

Auch fast alle unsere deportierten Darmstädter Mitbürgerinnen und Mitbürger gehörten zu den in und durch dieses Lager ermordeten Menschen.

Der Transport vom 27. September 1942 war nicht der erste Darmstädter Todeszug gewesen. Schon ein halbes Jahr zuvor, am 20. März 1942, hatten die Mörder rund 1.000 Menschen mit jüdischem Glauben oder jüdischen Wurzeln nach Lublin verschleppt. Auch sie sind nur kurze Zeit später in die Vernichtungslager Belzec und Majdanek verlegt worden, wo sich ihre Spur verliert. 

Im dritten Darmstädter Todeszug schließlich wurden am 15. März 1943 fast alle Darmstädter Sinti und Roma – viele von ihnen wohnten in der Altstadt als Handwerker- und Arbeiterfamilien – aus ihren Wohnungen und von ihren Arbeitsplätzen geholt und am Hauptbahnhof zusammengetrieben, wo die Deportationszüge schon bereitstanden.

Innerhalb von drei Stunden hatten die Menschen ihre Wohnung zu verlassen, mit einem Koffer in der Hand und einem Schild um den Hals. In viel zu engen Viehwaggons, ohne Wasser und Verpflegung, ohne Waschgelegenheit und Toiletten, wurden die Kinder, Frauen und Männer, junge und alte Menschen wie Tiere abtransportiert. 

Erst nach drei qualvollen Tagen erreichten sie ihr Ziel: Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Es ist wichtig, Zahlen und Daten zu diesen Menschheitsverbrechen zu nennen. Doch – auch dies will ich an dieser Stelle nicht verschweigen – birgt es auch eine Gefahr. Denn die Entmenschlichungihrer Opfer, die von den Nazis beabsichtigt war, setzt sich fort, wenn man die Verbrechen auf Zahlkolonnen reduziert. Jeder einzelne verschleppte und ermordete Mensch hatte seine Geschichte, sein Erlebnisse und Erinnerungen, sein soziales und berufliches Umfeld, das er oder sie mitgeprägt hat – schlicht gesprochen, sein Leben.

Es ist deshalb genauso wichtig, den Opfern auch heute noch ein Gesicht zu geben, ihre persönlichen und individuellen Geschichten zu erzählen, um das Grauen nicht durch Abstraktheit zu verschleiern. 

Deshalb sind zum Beispiel Ausstellungen wie „Zwischen Erfolg und Verfolgung – Jüdische Stars im deutschen Sport 1933 und danach“ im Rahmen der diesjährigen Jüdischen Kulturwochen so bedeutsam – eben weil sie die Gesichter zeigen und Bilder vermitteln.   

Romani Rose, Nachfahre eines Arheilger Bürgers und viele Jahre Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, hat vor fast fünfzehn Jahren in einer bewegenden Rede die – ich verwende den Begriff ganz bewusst erneut – Entmenschlichung der Deportierten in den Lagern ergreifend geschildert: 

„Die an der Rampe in Auschwitz eintreffenden Frauen, Männer und Kinder wurden zuerst zu Nummern degradiert, die man ihnen auf den Arm, bei Säuglingen auf den Oberschenkel tätowierte. Man raubte den Menschen den Namen und die Persönlichkeit; jeder Anspruch auf menschliche Würde wurde ihnen aberkannt. 

In allen drei Darmstädter Todeszügen zusammen wurden mehr als 3.400 Menschen auf den Weg in den Tod gezwungen. Darunter waren viele Kinder und Babies. Die Opfer kamen nicht nur aus Darmstadt selbst, sondern aus dem gesamten Volksstaat Hessen, also auch aus Gießen, Mainz, Bingen, Alzey, Worms oder den Städten und Gemeinden im Odenwald und im Landkreis Darmstadt-Dieburg. 

Die heutige Justus-Liebig-Schule im Johannesviertel ist damals als sogenanntes Durchgangslager genutzt worden. Die schlimmen hygienischen Zustände dort können Sie sich sicherlich vorstellen.

Es geschah vor aller Augen, mitten in der Stadt,  mitten im des bereits seines Namens beraubten Blumenthalviertels.

Die verbrecherische Ideologie dahinter war auch eine Darmstädter Ideologie. Sie wurde auch von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern unserer Stadt geteilt.

Als am 30. Januar 1933 den Nazis unter Führung Adolf Hitlers durch Paul von Hindenburg die Macht im Deutschen Reich übertragen wurde, hat das eine große Mehrheit der Bevölkerung in Darmstadt begrüßt.

Bei der folgenden Reichstagswahl vom 05. März 1933 erzielte die NSDAP in Darmstadt schreckliche  50% der Stimmen. Nur wenige Tage später wurden auch in Darmstadt erste Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte durchgeführt. 

Juden wie auch die in Darmstadt recht präsente Minderheit der Sinti waren zu Menschen zweiter Klasse gemacht worden, mit Berufsverboten belegt, entlassen, ihrer Unternehmen beraubt, der Willkür des Staates und der Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt. Sinti und Roma sowie Juden standen bereits außerhalb jeder Rechtsordnung, waren nicht mehr vom Recht geschützt.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass neben einem latenten oder offenen Antisemitismus auch vor den Nazis, insbesondere im Kaiserreich ab 1871 und in der Weimarer Republik der AntiziganismusSpitzen erlebte – auch wenn diese natürlich nicht mit den barbarischen Taten des NS-Regimes im Ansatz vergleichbar sind – beispielsweise mit einem noch 1929 von der demokratisch gewählten Hessischen Regierung verabschiedeten „Gesetz gegen Landfahrer und Zigeuner“.

Viele der NS-Mörder und auch der Verantwortlichen in den höchsten Kreisen kamen nach dem Krieg einfach so davon. Das gilt auch für Darmstadt. Verfahren wurden oft genug, nie eröffnet, zogen sich oder wurden – wie zynisch – „aus Mangel an Beweisen“ eingestellt. Erschreckend und beschämend.

Den überlebenden Opfern und ihren Kindern und Enkeln wurde Jahrzehnte lang die moralische und rechtliche Anerkennung verweigert. Erst nach vielen Jahren kam es zu Entschädigungen, zunächst vor allem für die jüdischen Opfer. 

Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde sogar erst am 17. März 1982 durch die Bundesrepublik Deutschland anerkannt, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt erstmals eine Delegation des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland empfing. Das war unglaubliche und beschämende 40 Jahre nach den Deportationen hier aus unserer Stadt.

Beschämend auch die Erfahrungen der Porajmos-Überlebenden Alwine Keck einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hier in Darmstadt, als sie vom städtischen Wohnungsamt mit den Worten „Wir haben ja nicht einmal genug Wohnungen für unsere eigenen Leute“ massiv diskriminiert und ausgegrenzt worden ist.

Ich zitiere Alwine Keck: „Wir galten immer noch nicht, oder schon wieder nicht, als Darmstädter.“

Ich begrüße und unterstütze es sehr, dass der Oberbürgermeister im März 2018 diese Schuldunserer Stadt bekannt und ausdrücklich betont hat, dass alle in Darmstadt lebenden Menschen, insbesondere auch die Sinti und Roma, und natürlich auch die Jüdinnen und Juden Darmstädterinnen und Darmstädter sind, Einwohner*innen und Bürger*innen dieser Stadt sind und gleichbehandelt werden müssen.

Wir können und wir werden niemals wieder zulassen, dass in unserer Stadt Sinti und Roma, Juden, Andersdenkende, Andersglaubende oder Anderslebende in welcher Form auch immer ausgegrenztwerden.

Wir haben mit jener unsäglichen und menschenverachtenden Tradition gebrochen, für die die Ausgrenzung der Sinti und der Juden beispielhaft steht. Deren grausamste Folge jene Todeszüge waren, die vor 80 Jahren den Güterbahnhof hier in Richtung Auschwitz verließen.

Am 27. September 1996, vor 26 Jahren, begannen die jährlichen Gedenkveranstaltungen an die Deportationen hier in Darmstadt mit einem „Gedenk-Gang“ von der Justus-Liebig-Schule zum Güterbahnhof, um den letzten Weg der verschleppten Menschen in Darmstadt nachzuvollziehen. Namen von Opfern wurden verlesen, um an sie zu erinnern.

Und vor 20 Jahren, 2002, gründete sich erfreulicherweise die Initiative Denkzeichen Güterbahnhof, mit dem Ziel, hier in unmittelbarer Nähe der Deportationsgleise ein Denkzeichen zu setzen, mit dem dauerhaft an die Opfer der Deportationen erinnert werden soll. 

Dafür möchte ich Ihnen meinen Respekt und auch meinen Dank aussprechen, und Ihnen aus Anlass Ihres 20-jährigen Jubiläums alles Gute und weiterhin viel Erfolg wünschen.

Zu verdanken haben wir das alles der „AG Geschichte vor Ort“ der Darmstädter Geschichtswerkstatt, der VVN-BdA, der Darmstädter Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dem Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt, der GEW und dem DGBsowie einer ganzen Reihe von Einzelpersonen, die zu den Gründungsmitgliedern der ursprünglichen Initiative gehörten, die den Gedenk-Gang organisiert und durchgeführt hat. 

Im Laufe der Jahre kamen weitere Einzelpersonen, Organisationen und auch Kommunen, sowie zahlreiche Spender und Sponsoren hinzu, die dann auch das Projekt und die Initiative Gedenkzeichen Güterbahnhof mit ermöglicht haben.

Besondere Verdienste haben sich Christoph Jetter und Renate Dreesen erworben, die gemeinsam mit den Künstlern Ritula Fränkel und Nicholas Morris sowie Prof. Werner Durth mit Hartnäckigkeit und Verbissenheit erreicht haben, dass das Gelände von der Deutschen Bahn erworben werden konnte und dass das Denkzeichen letztlich Realität wurde. 

Ich bin froh, dass mit vielen anderen auch die Stadt Darmstadt einen entscheidenden Anteil am Gelingen des Projektes hatte.

Mit ihrem Denkzeichen haben Ritula Fränkel und Nicholas Morris ein Kunstwerk geschaffen, das sich selbst erklärt. 

Schienen führen zu einem Panzerglaskasten, der mit Glasscherben gefüllt ist, auf denen die Namen deportierter Juden, Roma und Sinti aus Darmstadt und der Region vermerkt sind. Sie symbolisieren den Gewaltakt, dem die deportierten Menschen ausgesetzt waren. Die Gleise versinnbildlichen den Weg in die Todeslager und der Prellbock das gewaltsame Ende des Weges dieser Menschen. 

Der Ort hier am ehemaligen Güterbahnhof wurde gewählt, weil er uns und unsere Stadt direkt mit den Todeslagern im Osten verbindet. Hier tritt das, was als Holocaust oder Shoah bzw. Porajmos bezeichnet wird, mitten in unsere Stadt, unmittelbar auf uns zu. Von diesem Ort aus ist Darmstadt direkt mit Auschwitz-Birkenau, Theresienstadt, Belzec, Sobibor und Majdanek verbunden.

Darmstadt, so hat es Adam Strauß vor fast zwanzig Jahren formuliert, „Darmstadt war für viele der Beginn des Grauens und Auschwitz war für viele das Ende des Lebens.“ 

Die Verbindung zwischen beiden sind die Gleise des Güterbahnhofs, an denen wir hier stehen. Darmstadt wird auf immer verbunden bleiben mit Auschwitz und dem Holocaust.

Das Denkzeichen mahnt uns, die Erinnerung wach zu halten. Dafür zu sorgen, dass auch die künftigen Generationen die bedrückende Geschichte unserer Stadt kennen und dafür gewappnet sind, die Brandstifter und Mörder leichter und früher zu erkennen, als das damals der Fall war. 

Es ist keineswegs so, dass die Vergangenheit vergangen wäre und dass die Verbrechen, derer wir hier gedenken, heute nicht mehr geschehen könnten. 

Deshalb dürfen wir gerade hier, an diesem Ort, nicht zurückweichen. Wir dürfen den Menschenverächtern, Gewalttätern und Mördern keinen Raum lassen und ihnen die dauerhafte Beschädigung oder Entfernung dieses Mahnmals gestatten. Hier müssen wir weiter eng und entschlossen zusammenstehen.

In diesem Sinne bedanke ich mich bei Ihnen allen dafür, dass Sie heute hier sind, um den Opfern der Deportationen durch die drei Darmstädter Todeszüge zu gedenken. 

Ich bedanke mich bei allen, die sich für den Bau und den Erhalt des Denkzeichens einsetzen und eingesetzt haben. Sie leisten damit unserer Stadt, unserer Gesellschaft und unserer Demokratie einen großen Dienst. 

Vielen Dank allen, die dazu beigetragen haben, dass die heutige Gedenkveranstaltung stattfinden kann, und dass damit eine Tradition begründet wurde, die hoffentlich auch noch in Jahrzehnten gepflegt wird.

Wenn wir das gemeinsame Gedenken beibehalten und in die nächste Generation weitertragen können, dann haben wir viel geleistet „Gegen das Vergessen“ und für die Zukunft unserer Stadt,unseres Landes, für Demokratie und Freiheit.

Das Denkzeichen steht deshalb auch für Hoffnung. Denn aus Erinnerung erwächst Haltung! Die Haltung, dass Darmstadt eine tolerante, weltoffene Stadt ist, in der alle, die ihr Glück suchen, dies auch finden dürfen.

Nie wieder darf sich das ändern! Nie!

Vielen Dank.

Beitrag von Heike Hofmann

Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der großen Deportation in Darmstadt

Herr Oberbürgermeister, 
Frau Dreesen, 
meine Damen und Herren, 

mit dieser Veranstaltung gedenken wir den vor 80 Jahren, 1942 und 1943, aus Darmstadt deportierten Juden, Sinti und Roma. 

Begünstigt durch den sogenannten modernen Antisemitismus, der etwa 1870 in Europa stand, den 1. Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise 1929-1932, strebte die NSDAP unter Adolf Hitler seit ihrer Gründung die Ausgrenzung und Vertreibung der Juden aus der sogenannten „Deutschen Volksgemeinschaft“ an. 

„Die Entfernung der Juden selbst“ war das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Mit der Machtergreifung am 30.1.1933 begann die NSDAP mit ihren Unterorganisationen wie zum Beispiel der SA und SS teils geplante, teils ungeplante Gewalttaten gegen Juden zu verüben. Bereits 1933 entstand das erste Konzentrationslager. 

Nach weiteren bürgerlichen Koalitionen waren die Nürnberger Gesetze, welche die Bürgerrechte deutscher Juden einschränkten, ein weiterer bewusster gesetzgeberischer Akt der Nazis zur Demütigung, Isolierung und Verfolgung der Juden. 

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkriegs begann die NS-Diktatur, mit willkürlichen Massenerschießungen und der systematischen Vergasung von Millionen Männern, Frauen und Kindern in Massenvernichtungslagern. Bis zu 6,3 Millionen Juden wurden während des 2. Weltkriegs vom NS-Regime und seinen Tätern ermordet und vernichtet. 

Auch Sinti und Roma, die seit über 600 Jahren in Deutschland leben, wurden in der meisten Zeit als Minderheit ausgegrenzt und häufig verfolgt. Der Porajmos, das heißt der Völkermord an dem europäischen Roma in der NS-Zeit ist der traurige und bittere Höhepunkt der langen Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung von Sinti und Roma. Die Zahl der Opfer ist bedauerlicherweise nicht bekannt, liegt aber in jedem Fall in einem hohen sechsstelligen Bereich. 

Getreu der Devise „Wider das Vergessen“ erinnern wir heute Dank der Initiative „Gedenkort Güterbahnhof Darmstadt“ in Kooperation mit der jüdischen Gemeinde Darmstadt und der Wissenschaftsstadt der von hier in die Vernichtungslader deportierten Juden, Sinti und Roma. 

Ab März 1942 wurden hier 164 Juden und 69 Sinti aus Darmstadt und Umgebung deportiert. Insgesamt 1000 Opfer jeden Alters und Geschlechts soll es gegeben haben. Genaue Dokumente dieser Verbrechen wurden vor Kriegsende zerstört. 

Unter den Opfern war auch die 19-jährige  Alwine Keck, die auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz bei Merck war. Oder die kleine Jaqueline, die mit ihren großen Kinderaugen und süßen Paussbäckchen  wie eine Puppe aussah und kurz vor Ende des 2. Weltkriegs 1945 ermordet wurde. 

(Pause) 

Meine Damen und Herren, 

der Holocaust, der Porajmos, die NS-Diktatur und ihre Verbrechen dürfen niemals vergessen werden! Im Gegenteil: Wir brauchen eine permanente, anhaltende Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Auch heute haben wir bedauerlicherweise ein Erstarken des Extremismus, vor allem des Rechtsextremismus zu verzeichnen: 

Nach aktuellen Zahlen des Verfassungsschutzes stieg etwa hier in Hessen allein die Zahl der Rechtsextremisten auf 1710. Die meisten politisch motivierten Straftaten sind zudem rechtsextrem motiviert. Allein 946 Straftaten werden nach den aktuellen Zahlen hier in Hessen Rechtsextremisten zugeordnet. 

Meine Damen und Herren, 

wir leben in der schwierigsten Zeit der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mehrere Krisen (die noch nicht überwundene Corona-Krise, der Klimawandel, nun der furchtbare Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, die galoppierende Inflation, Energiekrise Lieferengpässe, steigende Lebensmittelpreise und Energiepreise) fordern uns heraus und sind zu meistern. 

Ich persönlich bin zuversichtlich, dass in der Politik die notwendigen Maßnahmen, etwa durch die Entlastung der Bürger und Unternehmen, die diese Hilfe brauchen und durch „gemeinschaftliches Unterhaken“, eingeleitet hat, um diese Krise zu meistern. 

Jedoch wird diese schwere Zeit von, vor allem Rechtsextremisten und Populisten genutzt, um eigenes Kapital aus der Not und dem Leid vieler Bürgerinnen und Bürger zu schlagen und um unser System, unsere Demokratie anzufechten.

Deshalb sage ich deutlich: Wehret den Anfängen! Wir müssen unsere Demokratie entschieden und entschlossen verteidigen. Wir gemeinsam! 

Ich glaube an die Stärke unserer Demokratie. Zu der Stärke unserer Demokratie gehört auch eine lebendige, stetige Erinnerungskultur, zu der die heutige Veranstaltung beiträgt.

Ich bin sicher: Das schmerzhafte Erinnern an unsere schuldhafte Vergangenheit, an die Verbrechen des NS-Regimes stärken unser demokratisches Bewusstsein und unsere Verantwortung. Auch für die Zukunft! 

Rede von Renate Dreesen am 25.9.2022

Initiative Gedenkort Güterbahnhof Darmstadt

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Hofmann,
sehr geehrter Herr Kolmar,
liebe Maria Strauß,
lieber Romano Strauß.
Lieber Daniel Neumann,

Sehr geehrte Damen und Herrn, 
liebe Freunde!

Seit über 25 Jahren finden jährlich Gedenkveranstaltungen am Güterbahnhof statt. Anlass für unsere jährlichen Veranstaltungen am letzten Sonntag im September sind die Deportationen vom 27. und 30. September 1942, mit mehr als 2000 Juden aus Darmstadt und dem ehemaligen Volksstaat Hessen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. 

Der erste Transport vom 20.3.42 mit 1000 Opfern fand vor 80 Jahren statt und ging nach Lublin. Unter den Deportierten befanden 164  Juden aus Darmstadt, sie waren alle jünger als 65. Zur Tarnung des Transports als Umsiedlung zum Arbeitseinsatz wurde ein Waggon mit Nähmaschinen angehängt. Am 27.9.42 verließ der zweite Transport mit 1288 Juden den Darmstädter Güterbahnhof, unter ihnen 188 aus Darmstadt; Ziel war Theresienstadt. Bereits am 30.9. folgte eine weitere Deportation mit 883 Menschen in die Vernichtung nach Polen.

Von diesem Ort wurden in Jahren 42/43 mehr als 3400 Juden und ungefähr 100 Sinti deportiert. Wenige überlebten. Von vielen Schicksalen wurde hier berichtet. 

Damals, als das Denkzeichen nicht existierte, haben wir bei den jährlichen Veranstaltungen Sonnenblumen an dem Prellbock und den Schienen weiter hinten abgelegt. 

Da das gesamte Gelände umgestaltet werden sollte, haben wir uns mit Ritula Fränkel und Nicky Morris entschieden, das Denkzeichen an diesem Platz zu errichten, der dauerhaft an die Deportationen erinnern wird. Jahre hat es gedauert, bis wir den Vertrag mit der Bahn und der Stadt unterzeichnen konnten, bis wir das Geld für das Denkzeichen zusammen hatten und endlich das Denkzeichen errichten und am 7. November 2004 einweihen konnten.

Im März 2022 wurde  zur gleichen Zeit in 39 Gottesdiensten von Affolderbach bis Worms an die Opfer aus den einzelnen Gemeinden gedacht. Die Initiative ging von Annette Claar-Kreh aus dem Dekanat vorderer Odenwald aus, die mit mir im Vorstand von Bunt ohne Braun im Landkreis Darmstadt-Dieburg ist, und mittlerweile haben sich 7 Dekanate aus der ganzen Region angeschlossen und verlesen in den Gottesdiensten die Namen der Menschen, die aus ihrem Ort deportiert wurden.   Das ist großartig und auch jetzt wird in Gottesdiensten in vielen Orten an die Deportationen erinnert.

Oft habe ich in den vielen Jahren Verwunderung gehört. dass an diesem Ort sowohl der jüdischen Opfer als auch der Sintiopfer gedacht wird. Das ist hier tatsächlich nie diskutiert worden – es war von Anfang an selbstverständlich.

Leider ist das nicht selbstverständlich in unserer Gesellschaft, in der immer wieder von Ressentiments gegen Sinti und Roma zu hören ist – bei uns und besonders in den Balkanländern ist die Situation der Romafamilien katastrophal – Millionen gibt die EU aus, um die Roma von uns fernzuhalten, aber das Geld kommt nicht bei ihnen an – und wir schauen weg. Das ist unerträglich.

Heute geht in Kassel die Dokumenta 15 zu Ende. Die Idee, Künstler des globalen Südens einzuladen, war sicher ein gut gemeinter Beitrag zur Debatte über Kolonialismus und Rassismus – die Folgen wirken bis heute nach und bedürfen einer historischen Aufarbeitung – aber das bedeutet nicht, dass der Holocaust relativiert werden darf. Leider ist es der Dokumenta  nicht gelungen, hier einen gesellschaftlichen Dialog anzustoßen, statt dessen gab es Verletzungen und Konfrontationen, die aber doch zeigen, wie  wichtig und wie notwendig der Dialog ist.

Das ist deshalb unerlässlich, weil sich das politische Klima in den letzten Jahren verändert hat. Ressentiments und Vorurteile, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus hat es immer gegeben, aber was früher vielleicht in der Familie oder am Stammtisch zu hören war, wird heute ungeniert, offen mit Namen und Adresse überall geäußert, auch in fast allen Parlamenten.

In den letzten Jahren ist viel geschehen, offene Gewalt und Mord.

Ich erinnere an die NSU Morde, an Halle und Hanau, an den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Vieles ist in Hessen passiert. Hanau hat uns alle erschüttert. Seit über 2 Jahren bekommt Seda Bassay-Yildiz Morddrohungen, die Adresse wurde abgefragt von Polizeicomputern. Es fehlt immer noch die entschiedene Aufklärung. Das muss sich ändern.

In der Coronakrise haben sich die Querdenker formiert, auch in Darmstadt treten sie immer wieder auf. Ein Sammelbecken von Verschwörungs“theoretikern“, Rechten, Reichsbürgern, AfD und und. Das Bündnis gegen Rechts in Darmstadt tritt ihnen mit Kundgebungen und Infoständen entgegen.

Aber das ist die Aufgabe aller Demokraten. Alle zivilgesellschaftlichen Organisationen und Personen, die gegen rechts, gegen Antisemitismus, Antiziganismus, jede Form von Hetze, Diskriminierung und offener Gewalt, aufstehen, müssen zusammenhalten – über alle Differenzen hinweg. Wir dürfen keine Ausgrenzung dulden – weder sozial noch rassistisch – und dem müssen uns stellen – jeden Tag.

Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Auch nicht durch den Krieg in der Ukraine, da ist unsere Solidarität und Unterstützung gefragt, nicht durch Inflation und Energiekrise.

Jeder Mensch, der gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Hass und Hetze aufsteht, ist uns willkommen und leistet seinen Beitrag zu einer offenen demokratischen Gesellschaft.

Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache. 

Diese Wochen fand in Paderborn das Bundesgedenkstättentreffen statt, in der nächsten Woche das Landesgedenkstättentreffen in Stadt-Allendorf.

Seit langen beschäftigt uns die Frage, wie die Erinnerungsarbeit zukünftig aussehen soll und wie sie weitergetragen wird. Viele Akteure sind schon recht betagt, die Arbeit muss von jüngeren Schultern getragen werden, vielleicht müssen auch andere Formen der Erinnerung gefunden werden, vielleicht kann die Arbeit auf Dauer auch nicht nur ehrenamtlich geleistet werden, aber uns ist wichtig, dass sie weitergetragen wird.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 

Darmstadt, 25.9.2022

Renate Dreesen

Beitrag der LIO

Guten Morgen meine Damen und Herren,

Wir sind die Geschichtensammler der Justus-Liebig-Schule.
Wir sind eine Gruppe freiwilliger Schülerinnen und Schüler unter der Leitung von Frau Mathieu.

Wir befragen regelmäßig Zeitzeugen. Diese Gespräche schreiben wir auf und unser Ziel ist es später mal ein ganzes Buch darüber zu veröffentlichen.

In diesem Rahmen haben wir im Mai diesen Jahres Schüler und Lehrer der nordfranzösischen Stadt Évereux getroffen. Mit ihnen zusammen sind wir nach Mauthausen, einem der Konzentrations­lager in Österreich, gefahren. Dort haben wir uns die beklemmende Historie angeschaut und Eindrücke gesammelt.

Knapp zwei Wochen später sind wir nach Évereux gereist und waren Teil der D-Day- Zeremonien. Auch konnten wir dort fast 100 Jahre alte Veteranen antreffen und kurz mit ihnen Reden.

Wir haben dort auch – teils französisch , teils deutsch-„die Moorsoldaten“ gesungen.
Wenn Sie das auch einmal hören wollen, sind Sie recht herzlich zu unserer
Gedenkveranstaltung auf unserem Schulhof der Justus-Liebig-Schule am 30.9.um 9.45 eingeladen. Dort gedenken wir der dort im Zwischenlager gesammelten Juden 1942.

Vielen Dank für Ihren Aufmerksamkeit und
wir würden uns freuen wenn Sie kommen!